Jammern und Klagen im digitalen Zeitalter

Ursprünge

Jammern und Klagen im Lauf der Zeiten

Weinen aus Trauer: Der Tod des Enkidu

Stefan M. Maul

Ritualisiertes Weinen, Klagen, Haareraufen und das Zerreißen von Gewändern sind integraler Bestandteil assyrisch-babylonischer Trauerfeierlichkeiten beim Tode eines geliebten Menschen.
Stirbt ein König, der als Stellvertreter der Götter die Menschen „recht leitet“ und den ganzen Kosmos „auf gerader Bahn zu halten“ hat , so nehmen an den Bestattungsriten nicht nur die königliche Familie und die Angehörigen, die Minister, der Hofstaat und das Volk teil. Auch die Natur selbst stimmt in das Klagelied ein.
In literarischer Form beschreibt ein Sohn des assyrischen Königs Asarhaddon (680-669 v. Chr.) die aufwendigen Bestattungsriten, die er für seinen Vater durchführen ließ und läßt eine lange Liste der kostbaren Grabbeigaben folgen (Nasrabadi 1999: 25-31). Dem recht sachlichen Bericht stellt er folgende poetische Einleitung voran:

Es verfielen in Klage die Kanäle, die Gräben geben ihnen Antwort,
alle Bäume und Früchte sind ganz dunkel (vor Leid).
Es weinten die Gärten, die noch im Frühling voller Früchte hingen
(…)

Das Motiv der um einen Menschen klagenden Natur ist alt. Es findet sich bereits im Gilgamesch-Epos. Als Enkidu, der heldenhafte Freund und Genosse des Gilgamesch, plötzlich verstarb, stimmt Gilgamesch ein Klagelied an. Seinem Wunsche folgend nehmen die Tiere mit ihrem Heulen, die Wälder, Berge und Flüsse mit ihrem Rauschen an der Trauer um Enkidu, den in der unberührten Natur von Wildtieren aufgezogenen Ur-Menschen, teil (George 2003: 650ff. Z. 1-20):

Kaum, daß die Morgenröte zu leuchten beginnt,
weint Gilgamesch um seinen Freund:

„Um deinetwillen, Enkidu, den dich deine Mutter, die Gazelle,
den dich auch der Wildesel, dein Vater, umsorgte,
um deinetwillen, den dich Onager-Stuten mit ihrer Milch aufzogen,
dem auch die Herde der Steppe alle Weidegründe zur Kenntnis brachte,
mögen die Wege, Enkidu, die des Zedernwaldes,
weinen und damit nicht aufhören bei Tag und bei Nacht!
Um deinetwillen mögen weinen die Ältesten der sich weit erstreckenden
Stadt Uruk, der Hürden (umhegten)!

Um deinetwillen möge die Menge weinen, die hinter uns (bleibend) ihren
Segen zu geben pflegte!
Um deinetwillen mögen weinen die hohen Gipfel von Berg und Gebirge!
Es mögen die Fluren klagen so als seien sie deine Mutter!
Um deinetwillen möge weinen der Buchsbaum, die Zypresse und die Zeder,
zwischen denen wir in unserem Wüten immer wieder hindurchgeschlüpft!
Um deinetwillen mögen weinen der Bär, die Hyäne, der Panther, der Gepard,
der Rothirsch und der Schakal,
der Löwe, der Wildstier, der Damhirsch, der Steinbock, das Herdenvieh und
die wilden Tiere der Steppe!

Um deinetwillen möge weinen der heilige Ulai-Strom, an dessen Ufer wir
stolz einherzuwandeln pflegten!
Um deinetwillen möge weinen der Euphrat, der reine,
dessen Wasser wir immer wieder aus Schläuchen (zum Opfer) ausgössen!
(…)“

Originalveröffentlichung in: C. Ambos – S. Hotz – G. Schwedler – S. Weinfurter (Hg.),
Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, Darmstadt 2005, S. 22-23
Mit freundlicher Genehmigung des Autors: Prof. Dr. Dr. h. c. Stefan M. Maul und des Verlages: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg).